FLUX // Inhalt ohne Chichi:

5 Fragen an ... Rainer Prüß

Der ungeschminkte Interview-Mitschnitt.

Wenn wir groß sind, werden wir richtige Shownotes:

 

Textversion

Das gekürzte Transkript:

Rainer Prüß ist einer der bekanntesten Kreativköpfe in Flensburg. Er ist Designer, Musiker, Segler und noch vieles mehr. Er hat u.a. das Logo der Stadt Flensburg entwickelt, zeichnet verantwortlich für die Gestaltung des Schifffahrtsmuseums und ist Erfinder des Foni, wer das Maskottchen der KomTel noch kennt.

Rainer Prüß über Fauxpas von Dieter Rams und Usability auf Schiffen.

1) Rainer, du machst die unterschiedlichsten Sachen – Grafik, Innenarchitektur, Yachtdesign. In wie weit spielen Usability und Nutzerbedürfnisse in deinem Schaffen eine Rolle?

RAINER:
Das ist die Grundlage meiner Arbeit. Es geht um Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Gleichgewichtssinn - also alle Sinne, die wir haben. Der Gegenstand oder der Prozess, den ich mache, müssen dem gerecht werden. Wir sind alle unterschiedliche Individuen, aber es gibt bestimmte Sachen, die allgemein gültig sind.

Gerade gestern war ich auf einer Veranstaltung, wo ein Fragebogen vorgestellt wurde. Da guck ich nur rauf und sage: "Entschuldigung, so viel gesammelte Scheiße auf einem Haufen, so viel Gedankenlosigkeit ist mir überhaupt noch nie begegnet." Das betraf die Sprache, die Zuordnung von Schrift und Symbolen - das ging alles gar nicht. Auf der Mappe ist dann das Logo klein drauf mit roter Schrift auf grünem Grund. Und ich weiß schon ganz genau: Das hältst du einen Meter weg und hast da einen 70jährigen Mann mit dem, was im Sehbereich dann eintritt, also die Minderung des Farbsehvermögens im Sinne von „Bei Nacht sind alle Katzen Grau. Wenn da das Rot und das Grün den gleichen Hell- bzw. Grau Bezugswert haben, dann sieht der möglicherweise gar nichts. Da muss ich sagen, leider die Hausaufgaben nicht gemacht. Ich muss doch die Grundlagen des Sehens und des Hörens und des Fühlens 100%ig erfüllen. Nicht nur auf 30jährige zuschneiden sondern auch auf 80jährige. Eine rote Wand in einem Altersheim ist z.B. eine Katastrophe, weil es für die älteren Menschen immer grauer wird. Bevor ich nachdenke über ästhetische Fragestellungen – das ist die Grundlage meiner ganzen Arbeit – sind zunächst mal diese handwerklichen Dinge zu erfüllen.

Für mich ist das beste Beispiel dafür die Schrift "Times". Wo mancher sagt "Oh, da kann ich schon gar nicht mehr drauf gucken." Aber ich erzähl euch mal wie die entstanden ist. Die ist von der Zeitung THE TIMES in Auftrag gegeben worden an einen Schriftschneider, der sollte eine Schrift entwickeln, die auch unter schlechtesten Lichtverhältnissen und in der U-Bahn bei Gerödel in der Zeitung lesbar ist. Und das erfüllt sie. Jede Serifenschrift ist besser lesbar als eine ohne Serifen. Zunächst geht es nicht darum, ob ich die Schrift leiden mag, sondern ob ich sie unter solchen Bedingungen lesen kann. Wenn die Frage, ob ich eine Serife rund oder eckig mache, auf die Lesbarkeit keinen Einfluss hat, dann kann ich mir über Ästhetik Gedanken machen. Aber erstrangig ist für mich die Erfüllung der wesentlichen Aufgabe. Und das heißt alle Sinne des Menschen, die davon betroffen sind, zu berücksichtigen.

Ist denn etwas, das der Aufgabe perfekt entspricht, automatisch ästhetisch?

RAINER:
Nein, aber es ist ziemlich nahe dran. Ich erinnere mich noch an einen Besuch von einem Freund in der Bretagne. Mein Freund stellte mich auf Deutsch vor: [spricht mit französischem Akzent] 'Hallo, das ist Rainer und er ist - äh - der ist - äh - er macht - äh - sieht gut aus, aber funktioniert nicht.' Was für ihn Design war. [lacht] Ich kann irgendwo hingehen, 1.000 Flaschenöffner kaufen und ich weiß, die Hälfte funktioniert nicht. Weil du sie nicht ordentlich anfassen kannst, weil du nicht begreifst, was es sein soll, schon vom Formausdruck her. Da fängt es ja an. In erster Linie muss es alles funktionieren. Das beste Beispiel ist für mich dieser typische, formgestanzte Flaschenöffner. Da kann man sich unterhalten, ob formal noch was drin ist [lacht] Und den gibt's ja auch in Varianten, aber erstmal muss die Aufgabe erfüllt werden. Ob dann zwangsweise eine gute Form dabei rauskommt, nee, da bin ich nicht so sicher. Da kenne ich auch Sachen, die richtig gut funktionieren, die eigentlich kaum zu verbessern sind, aber ich find die sehen Scheiße aus. Also zwangsweise ist das nicht, weil man über das Funktionieren hinaus eben auch noch was anderes erfüllen kann.

Bei einem meiner Braun-Geräte, die ich ja sammle, da neben dem Schneewittchensarg, die kleinen Schalter und Drehregler ... die erfüllen ja alle ihre Funktion, aber ich würde jetzt gern eine Unterscheidung haben, dass ich schon optisch weiß, wo lauter und leiser ist, ohne die kleinen Beschriftungen, die da so ganz klein dran sind – eine Katastrophe – das funktioniert einfach nicht. Das ist eine schlechte Beschriftung; dass ich das überhaupt lesen muss. Das ist dem Designer Dieter Rams nicht gelungen, mir zu visualisieren, was hier Höhen und was Tiefen sind. Das ist für mich eine Aufgabenstellung, die ich lösen muss: Die Dinge selbsterklärend zu machen. Das Teil sagt mir, wie ich damit umgehen soll und wofür es eigentlich da ist. Und das muss ich vielleicht gar nicht lernen in dem Sinne.

Wenn ich nicht extra was lernen muss, sondern es mir das sagt, ohne dass ich ein Handbuch lesen muss. So'n Idiotenkram, Handbücher sind für mich das Idiotischste auf der Welt. Am besten soo dick. Die Zeit, die ich mit dem neuen Gerät dann sparen soll, die brauch ich dann fürs Lesen des Handbuchs. Nein, das heißt für mich einfach nur, hier ist ein wesentlicher Teil der Aufgabe nicht gelungen, sonst brauch ich so ein umfangreiches Handbuch auch nicht.

Ich hab mir gerade so eine kleine Quatsche [Audio-Aufnahmegerät] gekauft für Interviews usw. Da ist nur ein Zettel dabei mit 4 Zeichnungen. Das ist dann gutes Design. Da war dann trotzdem noch ein 'Designer" dran, der meinte, irgendwelche Rillen reinmachen zu müssen oder eine Farbe zur Unterscheidung, um das irgendwie anzuhübschen. Da geht's dann mit Geschmack los. Soll jeder machen wie er will. Solange ich das Handy als Handy erkenne, bin ich ja schon zufrieden.

Das hat auch mit Konventionen zu tun. Wir haben ja konventionelle Formen. Jeder erkennt eine Kirche als Kirche. Mir muss keiner erzählen, dass der Kölner Dom eine Kirche ist. Aber es steht z.B. eine Kirche hier beim Rathaus, neuapostolisch, da muss ich drei mal hingucken, um zu erkennen, dass das eine Kirche ist. Das heißt nicht, dass es als Kirche nicht funktioniert, aber die Konvention in der Formsprache, dass es mir konventionell – also durch Verabredung – schon mitteilt, dass es ne Kirche ist, weil es diesen "Lümmel" da oben hat, das funktioniert da nicht. Nun kann man sagen, das ist eine kleine Gemeinde, die müssen das vielleicht auch gar nicht der Öffentlichkeit mitteilen.

2) Wir teilen die gemeinsame Leidenschaft Segeln. Was ist dein "Lieblingsding" auf einem Schiff mit toller Nutzbarkeit, das man vielleicht gar nicht mehr besser machen kann?

RAINER:
Bei mir an Bord: Mein Weinglas und meine Kaffeetasse [lacht] Die sind wichtig und funktionieren super!

Also ich sag mal, die Blöcke (Tauwerkrolle), die ich an Bord hab, die sind schon toll. Das ist eine Mischkonstruktion aus Metall und Holz. Das ist zum Anfassen toll, es ist in der Formgebung toll, weil da noch keine einzige Leine je hängen geblieben ist, die rutschen einfach ab. Die sind richtig gut, unaufwändig und auch noch ökologisch anständig. Wenn ich den nicht mehr brauche, dann rottet der rückstandslos weg.

Und die Pütz find ich auch gut, so eine Schlagpütz. Das Ding ist ja so simpel! [lacht] Du hast einen Eimer, da ist ein Bügel dran und der darf auch nicht verkanten und verknickeln und braucht diese Biegung oben, eine Leine dran mit einer Kausch. Und du kannst sie schmeißen. Und du kannst das Gewicht auch noch heben. Das ist ja auch eine Frage der Größe und Menge. Darüber habe ich gerade einen Aufsatz in einer Zeitschrift geschrieben. Als Designer bist du eigentlich auch Ausgrenzer. Du legst fest, was drinnen ist und was draußen ist. Du musst die Menge und die Größe von etwas festlegen. Das gehört zur Aufgabe dazu.

3) Du hast selbst auch Yachtdesign gemacht, ich denke an die Luxusmotoryacht Pegasus. Wenn du an so ein Projekt rangehst, wie gehst du da vor? Ich nehme an, du planst erstmal mit Papier und Stift. Baust du dann auch Prototypen bzw. Modelle, um deine Ideen zu testen und zu überprüfen?

RAINER:
Immer 6B-Bleistifte und Transparentrolle! Für bestimmte Dinge gibt es dann auch Modelle. Am Rumpf konnte man nicht viel machen, der war schon fast fertig. Die hatten da alles schön gemacht in der Abteilung "Sonderschiffbau", alles in Luxusausführung und schick in Mahagoni. Und dann kam der griechische Tankermillionär an und fasst sich an'n Kopp und sagt: 'Ich will doch nicht in Norddeutschland fahren, ich brauch doch keine norddeutsche Gemütlichkeit. Ich lieg im Mittelmeer, es ist eine Affenhitze, ich möchte alles schön mit weißem Leder bezogen haben.' Da haben wir dann z.B. auch Griffe gebaut. Ich habe da selbst geraspelt an Kunststoffmodellen, probiere aus, ob man den gut fassen kann und danach wird es gegossen.

Bei größeren Dingen, z.B. Niedergang, mach ich das mit Spanplatten, um z.B. die Enge einzuschätzen. Kommt man noch zu zweit aneinander vorbei oder nicht? Da nimmst du 4 Spanplatten, schraubst die aneinander und fertig. Sowas passiert dann in enger Zusammenarbeit mit der Werft. Es sollte ja alles mit Leder bespannt sein, auch die Schranktüren von innen und außen, aber "kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit Polsternägeln!". So und dann stehst du da. Ich habe dann die Türen zweischalig gemacht, eine Außenschale komplett bespannt und eine Innenschale, die dann zusammengesetzt werden. Wenn du das Leder spannen willst, kommt da natürlich Zug drauf. Mit dem Sattler haben wir dann alle möglichen Ecken ausprobiert. Wenn du so eine Kuh um die Ecke spannen willst, wie groß muss dann der Eckenradius mindestens sein, damit das faltenfrei wird? Das geht nur über Versuch und Irrtum. Wir haben da 4, 5 verschiedene Modelle gemacht. Da kommen auch Fragen auf wie, habe ich das Stück Leder vom Rücken, was dicker ist, oder ein Stück vom Bauch, wo das Leder dünner ist? Da habe ich unheimlich viel gelernt.

Gibt es einen typischen Prozess bei dir? Gibt es Unterschiede je nach Projekt, z.B. Plakat oder Yachtdesign?

RAINER:
Der ist für mich völlig klar. Das hat mit Zeichnen oder mit dem Rechner erstmal nichts zu tun. Zunächst ist das nur der Kopf, ein Denkprozess. Es sind in der Regel alles Kommunikationsaufgaben, in der Grafik auf jeden Fall. Was soll kommuniziert werden?

Zum Beispiel eines der bekanntesten Plakate von mir "Frauen zur See", das mit dem Kieker vorne, da treffen sich in Flensburg 20 Frauen, Frauen zur See. Das war ein Forschungsprojekt des Schifffahrtsmuseums. Was sind das für Frauen? Ganz klassisch von der Stewardess bis zur Kapitänin, Funkerinnen, Steuerfrauen, alles dabei. Und dann frage ich mich, was ist denn das Wesen dieser Aufgabe? Ich muss einem Fremden erzählen: Es geht um Seefahrt und es geht um Frauen. Da kann ich natürlich ein paar Wellen machen und ein Weiblichkeitszeichen. Aber das reicht mit nicht. Was stelle ich mir denn vor? Und dann rede ich mit der einen oder anderen. Ich stelle mir das richtig schwierig vor: Das sind zig Leute an Bord und sprechen die unterschiedlichsten Sprachen und diese Frauen sind mittendrin und haben eigentlich keinen zum Schnacken. Jedenfalls weiß ich nicht, ob die sich da rote Fingernägel machen an Bord oder rote Lippen.. also typisch weibliche Attribute.

Da geh ich dann in den Denkprozess rein: Was ist eigentlich das Wesen dieser Rolle? Denn tradiert hat die da ja gar nichts zu suchen [lacht] "Frau an Bord, Glück geht fort." Ich denke endlos darüber nach bevor ich überhaupt einen Strich mache. Ich laufe damit vier Wochen rum, um das Wesen der Aufgabe überhaupt zu begreifen. Und hier war es, ich muss Seefahrt deutlich machen, ich muss Frau deutlich machen, ich muss die Einsamkeit deutlich machen, in der Nacht vielleicht Wache zu gehen. Da weiß ich ja, wovon ich rede. Du stehst da für dich alleine und glotzt ob einer kommt.

Und dann fang ich an zu skizzieren. Das läuft bei mir immer auf die gleiche Art. An der Wand am anderen Ende des Raumes hängt ein A1-Plakat, da schaue ich mir mit dem Abstand die Größe an und übertrage das aufs Papier. Das ist dann nur noch Streichholzschachtelgröße. So, und in der Größe skizziere ich. Alles, was da nicht drauf passt, hat auf einem Plakat nichts zu suchen, weil es dann nicht mehr plakativ ist.

Ich habe es dann recht schnell gehabt, ich wollte nicht dieses Klischee prügeln, dass Frauen dienende Funktion an Bord haben, also nur den Kaffee bringen. Ich möchte ne Frau als Kapitänin oder Steuerfrau sehen. Da hab ich mir Bücher mit Rangabzeichen der Marine besorgt, denn es muss dann ja alles richtig sein, sonst kriegst du sofort Prügel. Dann war völlig klar, so eine Mütze und drei Streifen. Aber was mache ich für ein Gesicht? Heidi Möller? Nee, ich will ja nicht eine spezielle Frau, bei der man sagt "die mag ich leiden oder ist mein Typ". Ich will ja das "Prinzip Frau" haben. Und ich wusste ganz genau, eigentlich sind das rote Lippen [lacht]. Wenn ich die Augen schon nicht sehe wegen des Fernglases, dann bleibt nur diese Partie. Am Ende waren es dann eigentlich nur die beiden weißen Flächen vom Fernglas und der rote Mund. Und der rote Fingernagel.

Hinterher kam dann die internationale Vereinigung der Frauen und hat gefragt, ob sie das als Logo nehmen können. Und ich hatte Schiss, dass ich Prügel krieg, weil ich die Frau auf ihre – ich sag mal – sekundäre Geschlechtsmerkmale reduziere. Als 68er bin ich da natürlich ein bisschen geschädigt, auf diese alten Klischees zuzugreifen, aber das war null Thema.

Du musst eine Haltung finden zur Aufgabe, was ist das Wesen, was kann ich übermitteln und ich muss mich zielgruppengerecht unterhalten. Ich möchte, dass die seefahrenden Frauen nicht sauer sind. Ich möchte, dass allgemein die Frauen nicht sauer sind, weil sie sich nicht wiederfinden. Ich möchte, dass eine ganz breite Zielgruppe das gut findet und in diese Ausstellung kommt.

4) Du hast das Konzept und die Beschilderung für den Kapitänsweg in Flensburg entwickelt. Die Schilder wurden bzw. werden gerade erneuert. In dem neuen Konzept gibt es einen QR-Code auf den Schildern, was ja den Bogen schlägt in die digitale Welt. Was steckt dahinter?

RAINER:
Wir betreuen das Landesförderzentrum Sehen, d.h. ich hab mit Behinderten zu tun, mit Sehbehinderten in dem Fall. Ich habe mich intensiv damit beschäftigt, die Blinden sind dabei nur ein kleiner Anteil. Die Frage war, wie machen wir das allen Menschen zugänglich? Da ist der QR-Code ja noch das Simpelste. Es geht nicht nur um die Blinden, sondern auch um sehbehinderte oder hörgeschädigte Menschen, die wollen sich das z.B. besonders laut vorlesen lassen.

Es gab in Kiel bereits Erfahrungen. Da ist es z.B. so, wenn du an einer Tafel vorbeigehst, dann fängt die an zu quatschen. Das finde ich eine unsägliche Vorstellung. [lacht] Alle Leute gehen da vorbei und werden angequatscht. Wir haben es dann letztlich so gemacht, dass wir gesagt haben, wer ganz blind ist, muss sowieso einen Führer haben, der einem das vorliest. Wenn ich meinetwegen aber im Rollstuhl sitze und sehbehindert bin und sehe so eine Tafel, dann hat derjenige vorher erfahren, dass da so ein Knopp ist unten in der Ecke. Und da, wo der fühlbare Knopp ist, da ist der QR-Code. Es ist eine Tastwahrnehmung über die Position des QR-Codes und der ist so groß, dass es nicht auf die Genauigkeit ankommt, wie du dein handy davor hältst. Da haben wir uns schon intensiv mit beschäftigt und auch getestet. Die Anforderungen war schon, dass es barrierearm ist und gut zugänglich.

5) Eine Frage noch zum Schluss: Du hast viel darüber erzählt, dass du viele, viele Menschen kennst und dich über die Problemstellungen unterhältst. Wie wichtig ist für dich der Austausch zur Inspiration oder generell für die gestalterische Arbeit?

RAINER:
Ich habe gerade gestern oder vorgestern ein Portrait gesehen der französischen Chansonette – wie heißt sie denn – "Juliette Greco". Die kennst du vielleicht gar nicht, das war mal die angesagte Chanson-Sängerin kurz nach oder parallel zur Piaf. Die war im Interview und ich dachte: "Mensch, Frau, du sprichst mir aus der Seele". Sie sagte: "Alles hängt von Zufällen ab. Und ich lerne bei jeder Begegnung." Und genau das ist es. Das muss gar nicht fachlich sein. Da sagt irgendjemand einen Satz, sei es im Kritz oder weiß der Teufel, wo ich sage: "Ja. Wunderbar, wunderbar."

Oder ich gehe irgendwo spazieren – wie gestern durch Hamburg – und sehe ein Graffiti und denke "Oh hoo, geil, diese Formsprache, also weg vom Normalen, was man da an Buchstabengewurschtel so sieht, wobei das auch toll ist, diese Kreativität, solange es nicht an meiner Hauswand ist. [lacht] Ich finde überall Anregung in jeder Beziehung. Das ist formal oder auch technisch, was ich in einer Analogie übertragen kann auf was ganz anderes. Es gibt mir einen Hinweis.

Ich war lange Jahre auch Dozent für Kreativitätstechnik und Planungsmethodik und Kreativität ist ja nichts anderes als Assoziationsfähigkeit, also Dinge anders zu bündeln oder miteinander zu verknüpfen. Ich bin immer dabei, diese Rumpelkammer da oben im Kopf aufzufüllen. Wenn ich mal eine halbe Stunde Aufenthalt habe in Hamburg scheue ich mich auch nicht davor, am Bahnhof den "Lanzer" oder die "Deutsche Jägerzeitung" oder "die Flugschau" querzulesen. Ich sehe dann Dinge, die ich da oben reinpacke. Oder eben auch mit Menschen, nicht unbedingt nur fachlich.

Meine Lebenspartnerin, Frau, Weib, Freundin, die kennt das immer schon, den Begriff habe ich von einem Dozenten, der sagte "Wir brauchen Augenfutter." Und darum muss ich dann manchmal auch raus. Da reicht mir dann auch der Holm nicht mehr. Dann sag ich "Wir müssen mal wieder nach Aarhus fahren oder nach Lissabon oder weiß der Teufel. Ich muss einfach tanken." Ich weiß gar nicht, wofür ich das brauch, aber das ist alles Austausch. Das betrifft Menschen, auch Fachmenschen, z.B. gestern bei der Ausstellung "City Plakate" in Hamburg. Da seh ich dann Dinge, die ich normalerweise nicht zu sehen krieg vielleicht. Ich gehe bewusst in so eine Ausstellung und will da nicht wieder raus, ohne etwas gelernt zu haben. Dann ist man irgendwann dermaßen abgefüllt. Wunderbar.

nach oben ^

 

Impressum